sdg banner deutsch

AdobeStock 38662469

Zwar wird in den Medien regelmäßig über neue Rekorde beim Anteil Erneuerbarer Energien am Strom-Mix berichtet, aber gleichzeitig verfügt Deutschland über die höchsten Stromkosten weltweit. Die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl steigert die Energiekrise zusätzlich im Land und führt unweigerlich zu der Frage, wie weit die Energiewende eigentlich schon fortgeschritten ist. Die traurige Antwort: Nach über 20 Jahren stehen wir fast immer noch am Anfang – es folgt ein Überblick in Zahlen.

Schon lange und oft wird in Sonntagsreden das Banner der Energiewende von Politikern vor sich hergetragen. Ihr Startschuss fiel mit der rot-grünen Regierung unter Kanzler Schröder 1998 und steigerte sich 2010 auf das Ziel der Regierung unter Merkel, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 drastisch zu reduzieren – damit soll das Ende von Öl und Gas eingeläutet worden sein. Wenige Meilensteine folgten, wie zum Beispiel der Ausstieg aus der Kernenergie nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima im Jahr 2011 oder die Initiierung, Umsetzung und oftmalige Novellierung von Förderprogrammen wie dem Energie-Einspeisegesetz (EEG).

Dabei wurde von der Politik vieles nur halbherzig vorangetrieben, und allzu lange wurde das zentrale Geschäftsmodell großer Energieversorger, gestützt auf Kohle, Gas und Atom, vor dem dezentralen Ausbau alternativer Quellen, wie Wind und Sonne, von industriellen Lobbygruppen geschützt. So verwundert es nicht, dass nach Angaben des AG Energiebilanzen e.V. (AGEB) die Energiewende in Deutschland 2021 bisher nur zu einem Achtel umgesetzt wurde, indem der Anteil der Primärenergie durch erneuerbare Energien 2020 rund 14 Prozent betragen hat. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 lag der Anteil klimafreundlicher Energien bei 2,4 Prozent. Folglich konnte der Primärenergieanteil der Erneuerbaren innerhalb von 20 Jahren nur um knapp 12 Prozentpunkte gesteigert werden. Dabei handelt es sich um 0,60 Prozentpunkte pro Jahr, wobei noch ganze 86 Prozentpunkte zur Zielerfüllung fehlen.

Es ist noch ein langer Weg bis zum Ziel

Bei gleichbleibendem Verlauf gehen die Prognosen von AGEB davon aus, dass die Energiewende erst im Jahr 2130 mit einem Primärenergieanteil von 100 Prozent Erneuerbarer erreicht sein wird. Paradoxerweise wird bis dahin die Überproduktion und die damit einhergehende Verklappung von Solar- und Windstrom im Mix weiter zunehmen. Daneben ist zu erwarten, dass sich zum Beispiel auch die Sektorkopplung von Transport- und Wärme deutlich mühsamer und anspruchsvoller gestalten wird als die Stromerzeugung selbst.

Generell wird die Bekämpfung der Klimakrise als Hauptziel der Energiewende gesehen, sie stellt aber nur eines von vielen Zielen dar. Kritiker bemängeln etwa, dass der Atomausstieg 2022 vor dem Kohleausstieg stattfindet, obwohl die Verbrennung von Kohle viel klimaschädlicher wäre als die Fortführung von Atomkraftwerken. Weiter führen sie an, dass es bei der Energiewende nur um den Ausbau von Wind und Photovoltaik als Selbstzweck ginge. Effektiver Klimaschutz bräuchte aber Technologieoffenheit.

Glaubenssätze müssen hinterfragt werden

Ursprünglich sollte die Energiewende auch dem energiepolitischen Zieldreieck nach §1 des Energiewirtschaftsgesetzes folgen, dessen Erfüllung immer prekärer wird.

Versorgungssicherheit

Im Jahr 2000 waren lediglich drei Netzeingriffe wegen Versorgungsengpässen nötig. Heute sind es nach Angaben des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) gut 10.000 jährlich. Ob der deutsche Kraftwerkspark nach dem Atomausstieg im Jahr 2023 die Spitzenlast decken und das Preisniveau halten kann, gilt als sehr fraglich.

Wirtschaftlichkeit

Die Stromkosten haben sich in Deutschland seit dem Jahr 2000 verdoppelt und sind weltweit die höchsten. Seit April dieses Jahr werden Rekordpreise bezahlt, die sich durch den Krieg in der Ukraine und das einhergehende Embargo gegen Russland bei Öl und Gas fortsetzen und durch die Abschaltung der letzten AKWs noch weiter steigen werden.

Umweltverträglichkeit

Traurig, aber wahr: die CO2-Emissionen sind im Energiesektor seit dem Jahr 2000 nur um 13 Prozent gesunken. Der Ausbau von Solar, Wind und auch Biomasse führt durch den hohen Flächen- und Ressourcenbedarf zu neuen Umweltproblemen.

Alle drei Ziele des Energiewirtschaftsgesetzes leiden aktuell unter der Energiewende, deren Wirtschaftlichkeit durch den politischen Schlingerkurs der vergangenen Jahre große Fragezeichen aufwirft. Was bleibt ist die Gewissheit, dass sich das deutsche Energiesystem grundlegend ändern muss. Bequeme Lösungen wie die Versorgung durch russisches Gas und Öl sind Teile der Vergangenheit, während die Verpflichtung zum Klimaschutz mehr als ernst zu nehmen ist. Es geht darum die Systemarchitektur zu wandeln. Improvisationskunst und das Sichtbarmachen von neuen Perspektiven und Innovationen ist jetzt wichtiger denn je – auch wenn dabei als sicher geltende Glaubenssätze über den Haufen geworfen werden müssen.

Stephan Wild