Familien auf Deutschlandtour
Energie, Lebensmittel, Mobilität: Die Preise steigen spürbar, und für viele Familien reicht das Einkommen kaum noch zum normalen Leben aus, geschweige denn für eine Reise in den Sommerferien. Da kommt das 9-Euro-Ticket gerade recht, das als Teil des Entlastungspakets von der Bundesregierung beschlossen wurde. Im Juni, Juli und August kann man damit für jeweils einen Monat per Regionalbahn durch Deutschland fahren. So gelangt man nicht gerade schnell ans Urlaubsziel – aber auf jeden kostengünstig und klimafreundlich.
Wenn Neues gewagt wird, gibt es immer Kritiker. Züge zu voll, Personal zu knapp, Tropfen auf den heißen Stein, befürchten die einen. Endlich mal eine echte Erleichterung für Familien mit Kindern, jubeln die anderen. Und gleichzeitig wird von den Befürwortern in der zeitlich begrenzten Aktion eine attraktive Möglichkeit gesehen, um auch notorische Autofahrer und Urlaubsflieger auf den Geschmack des staufreien und umweltfreundlichen Bahnreisewegs zu bringen. Dafür setzen sich schon seit vielen Jahren der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland BUND, der Naturschutzbund Deutschland NABU und der Verkehrsclub Deutschland VCD zusammen mit der Deutschen Bahn ein. „Fahrtziel Natur“ heißt ihr 2001 begründetes Kooperationsprojekt, in dessen Mittelpunkt die Idee steht, den touristischen Verkehr in bislang 24 sensiblen Naturräumen von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Auf diese Weise sollen erhebliche Mengen an CO2-Emissionen eingespart, das Klima nachhaltig geschützt und die Artenvielfalt bewahrt werden. Während der von 2011 bis 2020 währenden UN-Dekade Biologische Vielfalt, in der sich die Vereinten Nationen in besonderem Maß für Biodiversität eingesetzt haben, wurde „Fahrtziel Natur“ daher mehrfach als offizielles UN-Projekt ausgezeichnet. Alle zwei Jahre verleihen die Kooperationspartner auch einen eigenen Fahrtziel Natur-Award an Regionen, die sich auf beispielhafte Weise engagieren. So wurde 2020 der Naturpark Ammergauer Alpen für die vorbildliche Erweiterung seines kostenlosen Mobilitätsangebots gekürt. Seither kann man getrost das Auto daheimlassen, um die herrlichen Wälder, Berge, Moore, Wiesen und Flusslandschaften des größten bayerischen Naturschutzgebiets ganz bequem per Bahn und Bus zu entdecken.
Auf nach Bayerisch Kanada
Ohne Auto bereisen lässt sich auch eine Region, die aufgrund ihrer urwüchsigen Natur gerne als „Bayerisches Kanada“ bezeichnet wird. Es handelt sich um das wildromantische Regental zwischen Teisnach und Viechtach, in dem man am Schwarzen Regen herrliche Wanderungen mit der ganzen Familie unternehmen kann. Bereits bei der Anfahrt kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus: Die moderne, gelb-grüne Waldbahn, die den Bayerischen Wald mit der Arber-Region verbindet, schlängelt sich direkt am Fluss entlang und gewährt im Vorbeifahren traumhafte Einblicke in die Tal- und Hanglandschaften des niederbayerischen Naturparks. Bis Ende August gilt auch hier das 9-Euro-Ticket, aber die Waldbahn ist und bleibt ohnehin günstig: Die Bayerwald-Region hat für ihre Urlaubsgäste nämlich längst das Gästeservice-Umwelt-Ticket – oder kurz: GUTi – eingeführt, mit dem man den öffentlichen Nahverkehr kostenlos nutzen kann. Gratis ist auch eine Bahnwanderkarte, die man vor dem Start ins Abenteuer auf www.laenderbahn.com/waldbahn/ausflugsziele/bayerisch-kanada bestellen kann. Darin werden die schönsten Touren in der Region beschrieben, unter anderem eine Flusswanderung zur Schnitzmühle, die manche gar als „coolste Adresse des Bayerischen Waldes“ feiern. Im Urwald-Restaurant kann man „brutal lokale“ Küche genießen oder gleich den ganzen Urlaub im Naturcamp oder in der komfortablen Hacienda verbringen. Hiken, Biken, Reiten, Yoga, Wellness, Kultur: Hier ist für alle gesorgt. Sehr lohnenswert ist auch eine Zeitreise ins Mittelalter zur Burgruine Altnussberg, die vom Bahnhof Gumpenried aus flussabwärts erwandert werden kann. Von ihrem Turm aus bietet sie einen herrlichen Rundblick über den Bayerischen Wald, und in der Schenke mit romantischem Biergarten genau das, was Ritter und Ausflügler lieben.
Die Camargue vor der Haustür
Mit der Camargue wird das 55 Flusskilometer lange Europareservat Unterer Inn verglichen, das im Grenzgebiet von Bayern und Oberösterreich liegt. Ähnlich wie in der berühmten südfranzösischen Region sind dort Wasserflächen und Insellandschaften entstanden, in denen sich jede Menge Tiere und Pflanzen angesiedelt haben. Die Entwicklung ist in diesem Fall mal dem Eingriff des Menschen zu verdanken: Durch den Bau von vier Staustufen landeten nämlich nach und nach Schwebstoffe an. In der Folge bildeten sich Flachwasserzonen und fruchtbare Schlickbänke, aus ein bisschen Schilf wurden schließlich dichte Röhrichte, aus einzelnen Bäumen urwaldartige Auwälder. Seither dient die außergewöhnliche Naturlandschaft als Lebensraum für mehr als 300 Vogelarten, darunter so seltene wie Flussregenpfeifer oder Flussuferläufer. Aber auch Säugetiere wie Biber, Fischotter und Fledermäuse, Amphibien wie Kröten und Molche, Reptilien wie Eidechsen und Nattern, Insekten wie der Sandlaufkäfer und der Dunkle Seidenläufer sowie seltene Orchideen haben unweit des bayerischen Bäderdreiecks ihr Habitat gefunden. Um die Besonderheiten dieses einzigartigen Naturraums zu verstehen, lohnt sich ein Besuch im 2021 eröffneten Naturium: Als eine von 60 Umweltstationen in Bayern bietet es Flusserlebnistage, Biber- und Fledermausexkursionen, geschichtliche und geologische Führungen sowie viele weitere Naturerlebnisse. Ideal lässt sich diese besondere Ecke Bayerns in Kombination von Zug und Radl bereisen, denn die Bahnhöfe von Simbach, Braunau und Mining sind nur wenige Kilometer entfernt. Und wer sowieso gerade auf dem Inn-, Tauern- oder Römerradweg unterwegs ist, fährt quasi direkt vorbei beziehungsweise gerne auch mitten hindurch.
Reisen von Bayern bis Thüringen
Deutschland bietet so viele schöne Ziele, dass Fernreisen eigentlich gar nicht nötig sind. Diese Erkenntnis wollen die Bundesländer mit einer gemeinsamen Marketingaktion fördern: Auf entdecke-deutschland.de stellen sie Lieblingsorte von Bayern bis Thüringen vor, die sich dank 9-Euro-Ticket derzeit so günstig wie nie bereisen lassen. Zwei Stunden hinter Berlin liegt beispielsweise die Hansestadt Anklam und damit nicht nur das Tor zur Insel Usedom, sondern auch die Pforte zum „Amazonas des Nordens“. Gemeint ist die 100 Kilometer lange Peene, auf der man mit Kanu, Kajak und Solarboot umweltfreundliche Dschungelabenteuer erleben kann. Dafür wurde der Vorpommerschen Flusslandschaft der Europäische EDEN-Award als herausragendes Beispiel für nachhaltigen Wassertourismus verliehen. Außergewöhnliche Naturerfahrungen bietet auch der Thüringer Wald, der mit seinen einsamen Bergwäldern, Blumenwiesen und Mooren Schauplatz für so manches Märchen sein könnte. In 36 Stunden ließe sich das UNESCO Biosphärenreservat einmal umrunden, heißt es. Verlockender ist jedoch eine Erlebnistour auf dem Rennsteig, einem der ältesten und wildromantischsten Weit- und Höhenwanderwege Deutschlands. Dass man für beide Reiseziele nur die Öffentlichen als Transportmittel braucht, ist ganz im Sinne von BUND, NABU, Umweltbundesamt und all den anderen Akteuren, die seit langem vehement auf die klimaschädlichen Auswirkungen des Tourismus insbesondere bei der An- und Abreise hinweisen und sich für CO2-sparendes Reisen einsetzen. Bahn und Ferne mögen für manche noch nicht recht zusammenpassen, aber innerhalb Deutschlands gibt es kaum Ausreden. Dafür sorgt auch das Projekt „Katzensprung 2.0“, das vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative gefördert wird. Unter dem Motto „Kleine Wege. Große Erlebnisse.“ macht es Lust auf neue Ziele vor der Haustür – oder zumindest ganz in der Nähe.
Claudia Mattuschat