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Zucker

„Ach wie süß“ – dieser Ausruf ist so alltäglich wie fatal. Denn er zeigt, wie wenig wir uns des Gefahrenpotenzials der Geschmacksrichtung Süße bewusst sind. Mehr als 40 Jahre Gehirnwäsche durch die Zuckerlobby waren erfolgreich. Die nächste schlechte Nachricht: Der Weg zur Besserung ist kein leichter. Die gute Nachricht: Er lohnt sich.

Wie aktuell die Zucker-Diskussion ist, zeigt uns inzwischen sogar das Kino: Am 29. Oktober hat es das Thema mit dem australischen Dokumentarfilm „Voll verzuckert – That Sugar Film“ sogar in die deutschen Lichtspieltheater geschafft. Das Experiment des Films regt zum Nachdenken an: Ein kerngesunder Australier stellt seine jahrelang zuckerfreie Lebensweise auf die des durchschnittlichen Essers aus Down Under um. Das bedeutet für den Dokumentarfilmer, zwei Monate lang jeden Tag 40 Löffel Zucker zu essen. Nach nur 18 Tagen hat er bereits über fünf Kilo zugenommen, am Ende des Zeitraums werden es fast neun Kilogramm sein; alle weiteren Vitalwerte haben sich entsprechend verschlechtert.
Wie realistisch sind solche Zahlen? Das Gewicht eines handelsüblichen Zuckerwürfels liegt bei etwa drei Gramm. Im Kinoversuch bedeutet diese Zahl: 120 Gramm Zucker pro Tag, entsprechend etwa 44 Kilogramm pro Jahr – eine ganze Menge. Damit liegt der Zuckerkonsum des Australiers jedoch nicht so weit über dem eines durchschnittlichen Bundesbürgers, der über einen Zeitraum von 365 Tagen etwa 36 kg Zucker verzehrt, also etwas über 100 Gramm pro Tag. Eine im März 2015 veröffentlichte WHO-Richtlinie empfiehlt, nicht mehr als 25 Gramm oder sechs Teelöffel der raffinierten Süße zu sich zu nehmen, natürliche Zucker aus Milch oder Obst ausgenommen.
Dieses ungesunde Essverhalten führt zu gesundheitlichen Problemen. An erster Stelle steht Übergewicht, eine direkte Folge. Die Zahlen sind hier alarmierend: Seit 1980 hat sich die Zahl übergewichtiger Menschen verdreifacht. Besonders die Zahl der adipösen, also krankhaft fettleibigen Menschen, ist erschreckend: Laut einer OECD-Studie sind in Großbritannien 23 Prozent aller Menschen betroffen und in Deutschland 15. In den USA sind über ein Drittel der Menschen adipös, in Japan hingegen liegt der Wert bei nur vier Prozent.
Das Übergewicht selbst ist für die Betroffenen jedoch nicht das Schlimmste, vielmehr sind die Folgeerkrankungen eine tickende Zeitbombe. Diabetes führt die unrühmliche Liste an. Aktuell sind mehr als sechs Millionen Menschen in Deutschland an Diabetes mellitus erkrankt – diese Zahl hat die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) 2015 zum Weltdiabetestag am 14. November veröffentlicht; die Zahl der an der Vorstufe Prädiabetes leidenden Menschen ist entsprechend höher. Insbesondere unter Kindern und Jugendlichen zeichnen sich viele Diabetikerkarrieren ab. Dabei bildet die Diagnose häufig erst den Beginn für weitere negative gesundheitliche Auswirkungen; Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Augenerkrankungen, Leberverfettung und Schlaganfälle sind nur die prominentesten. Drei Viertel aller Menschen mit Diabetes sterben letztlich an Herzinfarkt oder Schlaganfall, so die DDG.


Im Zuckerrausch


Fast hat es den Anschein, als sei die Welt im Zuckerrausch. Immer mehr Stimmen sprechen deswegen von der Droge Zucker und setzen den weißen Stoff mit Suchtmitteln wie Zigaretten gleich. Tatsächlich arbeitet die Zuckerlobby intensiv daran, ihr Hauptprodukt weiterhin ökonomisch erfolgreich vermarkten zu können – vielfach wird Zucker sogar als integraler Bestandteil einer gesunden Ernährung beworben.
Doch es mehren sich kritisch-investigative Berichte, die aufklären: Die Arte-Dokumentation „Die große Zuckerlüge“ spürte einer 40 Jahre laufenden PR-Kampagne der Zuckerindustrie nach. Ein weiteres Beispiel liefert der DDG: Die New York Times berichtete demnach kürzlich, dass der Coca-Cola-Konzern Wissenschaftlern 1,5 Millionen Dollar zahlte, damit sie mangelnde Bewegung als wahren Dickmacher identifizieren – und gleichzeitig die Bedeutung gesüßter Softdrinks relativieren. Wer die gut neun Gramm Zucker auf 100 Gramm des Koffeingetränks hochrechnet, erkennt jedoch schnell, dass gerade gezuckerte Limonaden wahre Zuckerbomben sind. Bereits ein kleines Glas enthält damit die Menge von beinahe dreißig Gramm Zucker. Zur Erinnerung: Die WHO-Empfehlung lautet 25 Gramm.
Doch die Problematik reich weit über Soft- und Energy Drinks hinaus: Insbesondere verarbeitete Lebensmittel stellen sich als wahre Zuckerfallen heraus. Besonders heimtückisch für weniger achtsame Verbraucher ist die Tatsache, dass die Industrie recht hemmungslos bei der Außendarstellung ihrer Produkte ist. Da wird der fettarme, probiotische Joghurt zum gesunden Nahrungsmittel – trotz seines enorm hohen Zuckergehalts. Für den Verbraucher bleibt so nur der schwere, aber lohnenswerte Weg: informieren, ersetzen, verzichten. Wer sich informiert, findet entsprechend gute Lebensmittel.
Die Riegelmanufaktor von Sascha Nuszkowski etwa bietet – Nomen est Omen – handgefertigte Müsliriegel, die ohne industrielle Zucker gesüßt sind. Balázs Bojkó ist nicht nur Geschäftsführer der Paleowelt GmbH, er ist auch Autor des Buches „Einfach Paleo“. In ihm beschreibt er unter anderem seine Erfahrungen seit einer Ernährungsumstellung: Nachdem er jahrelang an einer chronischen Darmerkrankung gelitten hatte, lebt Bojkó seit seinem Wechsel zum Paleo-Konzept beschwerdefrei. Selbst kochen und so verarbeitete Lebensmittel ersetzen ist dabei sein Credo. Bei Süße setzt er auf Erythrit. Auch Stevia und Xylith haben sich als relativ unbedenkliche Süßungsmittel etabliert.


Weniger ist mehr


Doch auch bei Süßungsmitteln bestimmt die Menge das Gift. Umgekehrt gilt jedoch auch, dass gelegentlicher, mäßiger Zuckerkonsum keine Katastrophe ist – und auf jeden Fall besser, als sich mit Orthorexie auseinandersetzen zu müssen, dem krankhaften Essverhalten, bei dem sich das Leben nur noch um gesunde Lebensmittel dreht. Vorsicht ist auf jeden Fall geboten, denn die Industrie hat die Zuckerersatzstoffe bereits für sich entdeckt und spannt sie vor ihre Kampagnenkarren.
Wer jedoch eine Zeit lang das Experiment wagt und seinen Zuckerkonsum reduziert, stellt in der Regel nicht nur eine kurze Entzugszeit fest, sondern auch eine Neukonfiguration der Sinneszelle. Einfacher: Mit weniger Zucker schmeckt es genauso gut und ist „nebenbei“ gesünder. Das könnte wiederum Anreiz sein, das nächste Stück Kuchen nicht beim Bäcker zu kaufen, sondern selbst wieder mal einen Backversuch zu wagen – weniger süß, ohne Zucker.


Stefan Karl